
Altersdepression – Wenn sich die Finsternis auf leisen Sohlen anschleicht
von Marcus Woggesin – 19. July 2025Es ist ein Dieb, der nicht mit einem lauten Krachen in dein Leben einbricht. Nein. Er schleicht sich heran, Millimeter um Millimeter, ein kaum merkliches Verdunkeln am Horizont des eigenen Daseins. Die Altersdepression – das ist kein offener Schmerz, der um Beachtung schreit. Es ist das stille Verschwinden der Farben, das schleichende Versiegen der Lebensenergie, ein Angriff von hinten, während du nach vorn blickst und dich fragst: "Warum fühlt sich alles nur noch so... schwer an? So leer?"
Man könnte meinen, das Alter sei eine Zeit der Bilanz, des Rückblicks, vielleicht auch der weisen Gelassenheit. Und für viele ist es das auch. Doch für manche wird dieser Lebensabschnitt zur Bühne einer besonders heimtückischen Gegnerin: einer Depression, die sich tarnen kann wie ein Meister der Täuschung. Sie versteckt sich nicht selten hinter der Maske des "natürlichen Alterns". Müdigkeit? "Ja, das ist doch normal mit den Jahren." Interessenverlust? "Wozu auch, ich hab doch schon alles gesehen." Rückzug? "Die anderen sind sowieso alle beschäftigt." Schlafstörungen? "Das kennt man doch." Und so wird das große Verschwinden bagatellisiert, wegerklärt, ignoriert. Von außen. Und oft auch von innen.
Das ist ihre Heimtücke: Sie kommt nicht mit dem Donnerhall der Verzweiflung, die wir aus jüngeren Jahren kennen. Sie kommt als schleichende Resignation. Als das Gefühl, dass das Leben bereits gelebt ist, dass nichts Neues mehr kommt, dass man nur noch wartet. Sie nutzt die körperlichen Gebrechen, die vielleicht tatsächlich da sind – die schmerzenden Gelenke, die nachlassende Sehkraft, die langsamere Gangart – und spinnt daraus einen Teppich der Hoffnungslosigkeit: "Siehst du? Es geht nur noch bergab. Es hat keinen Sinn mehr." Sie flüstert von Verlusten: der geliebten Partnerin, dem Freundeskreis, der beruflichen Rolle, der körperlichen Kraft, der Zukunftsperspektive. Und sie malt diese Verluste nicht als Teil des Lebens, sondern als unumstößlichen Beweis für die eigene Wertlosigkeit und die Sinnlosigkeit des Weiterlebens.
Diese Depression im Alter ist ein feindlicher Agent im eigenen System. Sie untergräbt von innen:
+ Sie stiehlt die Freude am Kleinen: Die Tasse Tee in der Morgensonne, das Lachen des Enkels, das vertraute Lied im Radio – alles wird flach, grau, bedeutungslos. Der Geschmack ist weg. Der Klang ist taub. Das Licht ist matt.
+ Sie verkleidet sich als Realismus: Sie überredet dich, dass deine düsteren Gedanken einfach nur "klar" und "erwachsen" sind. Dass die Welt tatsächlich so trostlos ist, wie du sie siehst. Dass Optimismus nur etwas für Naive ist. Es ist nicht die Traurigkeit eines Moments; es ist die fundamentale Überzeugung, dass Freude nicht mehr möglich ist.
+ Sie isoliert hinter unsichtbaren Mauern: Der Griff zum Telefonhörer wird unendlich schwer. Der Besuch bei den Nachbarn eine unüberwindbare Hürde. Man zieht sich zurück, nicht aus Überdruss, sondern aus einer lähmenden Schwere und der Angst, anderen zur Last zu fallen oder ihr vermeintlich glückliches Leben nicht ertragen zu können. Die Einsamkeit wird zum Gift und zum Nährboden der Depression zugleich.
+ Sie attackiert den Körper: Appetitlosigkeit. Rätselhafte Schmerzen, die kein Arzt erklären kann. Schlaf, der keine Erholung bringt. Eine bleierne Müdigkeit, die in den Knochen sitzt. Der Körper wird zum Verbündeten der Finsternis und erschwert es noch mehr, den wahren Feind zu erkennen.
Und das ist ihre größte Gefahr: Weil sie so still kommt, so "altersgerecht" maskiert, wird sie oft nicht ernst genommen. Weder vom Betroffenen selbst ("Stell dich nicht so an"), noch vom Umfeld ("Oma ist halt ein bisschen grantig geworden"), noch manchmal sogar von Ärzten, die Symptome vorschnell dem körperlichen Alterungsprozess zuschreiben. Dabei ist diese Depression kein unabwendbares Schicksal des Alters! Sie ist eine behandelbare Erkrankung, eine Wunde der Seele, die Aufmerksamkeit und Pflege braucht – und verdient.
Wie wehrt man sich gegen diesen hinterhältigen Angriff? Zuerst, indem man den Feind erkennt. Indem man versteht: Traurigkeit nach Verlusten ist menschlich. Eine anhaltende, alles durchdringende Hoffnungs- und Freudlosigkeit ist es nicht. Es ist die Depression. Der erste, schwierigste Schritt ist oft, das eigene Schweigen zu brechen. Zu sagen: "Mir geht es nicht gut. Ich bin nicht nur alt, ich bin krank. Ich brauche Hilfe."
Die Behandlung kann – angepasst an die Lebensrealität und die körperliche Verfassung – sehr wirksam sein. Gesprächstherapien, die auch die Biographie, die Lebenserfahrungen und die aktuellen Verluste würdigen, können helfen, den Teufelskreis aus negativen Gedanken und Rückzug zu durchbrechen. Manchmal können auch Medikamente, sorgfältig ausgewählt und überwacht, eine wichtige Stütze sein, um wieder genug Kraft für die Therapie und den Alltag zu finden. Vor allem aber braucht es ein Umfeld, das hinschaut, das nachfragt, das die Bagatellisierungen nicht einfach schluckt, das den Rückzug nicht einfach akzeptiert, sondern behutsam Verbindung hält.
Es ist ein Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, der sich in die Falten des Alters tarnt. Aber es ist ein Kampf, der sich lohnt. Denn auch im hohen Alter hat das Leben Licht, Trost, Verbundenheit und Momente der Freude zu bieten. Die Altersdepression will dir weismachen, dass das nicht wahr ist. Die Wahrheit ist: Selbst wenn die Sonne tief steht, wirft sie noch lange, warme Schatten und kann die Welt in goldenes Licht tauchen. Man muss nur den Mut finden, die Vorhänge wieder ein Stück weit aufzuziehen – und Hilfe anzunehmen, um die heimtückische Finsternis zurückzudrängen. Es ist nie zu spät, um wieder ein wenig Farbe zu sehen. Nie.