Das stille Exodus - Einsamkeit als Epidemie

von Marcus Woggesin – 13. Oktober 2025

Sie ziehen sich zurück. Leise, unmerklich, fast wie ein Gesetz der Natur. Zuerst sind es die gemeinsamen Pausen, dann die Sonntagsbesuche, schließlich die Antworten auf Nachrichten, die immer kürzer, seltener, bedeutungsloser werden. Ein schleichendes Verschwinden im Hellen, mitten unter uns. Und was bleibt, ist die Frage: Ist es Bequemlichkeit oder die letzte Verzweiflung einer Generation, die im Dauermodus der Optimierung versagt hat?

Denn diese Rückzugsbewegung ist kein Zufall, sie ist das logische Ergebnis einer toxischen Gleichzeitigkeit. Wir leben in einer Gesellschaft, die Hyper-Sozialität predigt – sei always on, sei nett, sei verfügbar, sei ein Marke –, während sie gleichzeitig jedes authentische, verletzliche Band systematisch zerstört. Der Mensch ist zum störungsfreien Konsumobjekt geworden, dessen Wert sich an seiner Leistung und Belastbarkeit misst. Wer da nicht mithalten kann, wer Schwäche zeigt, wer das falsche Maß an Introversion oder Sensibilität mitbringt, der fällt nicht einfach durchs Raster. Er springt freiwillig. Der Rückzug ist der letzte Akt der Selbstbehauptung in einer Welt, die keine Menschen, nur noch Humankapital kennt.

Die Folge ist eine unsichtbare Epidemie der Einsamkeit, die sich in psychischen Symptomen manifestiert. Depressionen, Angststörungen, Burn-out – das sind keine individuellen Betriebsunfälle mehr, das sind systemische Zwangshandlungen. Es ist der Körper, der rebelliert, wo der Geist schon kapituliert hat. Wir pathologisieren die Opfer, therapieren sie zurück in den Käfig, der sie krank gemacht hat, anstatt den Käfig zu zertrümmern.

Und das Perfideste daran? Das System profitiert sogar noch davon. Die Einsamen sind die besseren Konsumenten. Ihre Leere wird zur treibenden Kraft für den Kauf von Trost, für Ablenkung, für die Illusion von Gemeinschaft in digitalen Scheinwelten. Ein Teufelskreis aus Verzweiflung und Kommerz.

Fragen wir also nicht länger, warum sich diese Menschen zurückziehen. Fragen wir, welche Art von Gemeinschaft wir geschaffen haben, die so viele Menschen ausspeit. Welche Art von Leben wir führen, das so viele nicht leben wollen. Der Rückzug des Einzelnen ist das lautlose Urteil über das Kollektiv. Und dieses Urteil fällt immer vernichtender aus. Es ist an der Zeit, zuzuhören, was die Stille uns zu sagen hat. Bevor sie alles ist, was von uns übrig bleibt.