
Stille Tränen
von Marcus Woggesin – 20. Oktober 2025Es war früh am Morgen, die Welt lag noch in einem zarten Dämmerlicht, als ich ein leises Schluchzen aus dem Schlafzimmer meiner Mutter hörte. Dieses Geräusch war so zerbrechlich, dass ich für einen Moment nicht wusste, ob ich es mir nur eingebildet hatte. Doch dann kam es wieder – kaum hörbar, aber voller Schmerz. Ich klopfte leise an, öffnete vorsichtig die Tür und trat ein.
Da lag sie – meine Mama – eingehüllt in ihre Decke wie in einen schützenden Kokon, als wollte sie sich vor der Kälte der Erinnerung bewahren. In ihrer linken Hand hielt sie das Handy, als würde sie noch einmal versuchen, Verbindung zu etwas zu finden, das längst nicht mehr erreichbar war. In der anderen Hand ein nasses Taschentuch, schwer von Tränen, die sie im Stillen geweint hatte. Ich setzte mich leise an ihr Bett, und für einen Augenblick war nur das leise Zittern ihres Atems zu hören.
Sie hob den Kopf, sah mich an – und in diesem Blick lag so viel Schmerz, dass mir selbst die Luft wegblieb. Mit brüchiger Stimme sagte sie: „Keiner sieht, wie es mir oft morgens geht, seit Papa verstorben ist. Wir haben uns morgens immer unterhalten und gemeinsam gelacht. Er schaute mich an – und ich war glücklich. Jetzt, nachdem er an Demenz verstorben ist, sieht keiner die stillen Tränen. Ich vermisse ihn so unendlich…“
Ihre Worte hingen in der Luft, schwer und sanft zugleich. Ich spürte die tiefe Einsamkeit, die in ihr wohnte, diesen stillen Schmerz, der keinen Lärm macht, aber alles durchdringt. Mir fehlten die Worte. Was sagt man in einem Moment, in dem Worte nichts heilen können? Ich nahm nur ihre Hand und ließ meine eigene Stille sprechen.
In diesem Moment verstand ich etwas, das ich vielleicht nie zuvor so gefühlt hatte: dass es Tränen gibt, die nicht laut weinen, sondern leise tropfen, irgendwo tief im Inneren. Tränen, die niemand sieht, weil sie im Verborgenen fallen – morgens, wenn die Welt noch schläft und man sich selbst kaum spürt. Es sind diese stillen Tränen, die uns zeigen, wie tief Liebe gehen kann. Wie sehr ein Mensch fehlen kann.
Ich sah meine Mutter an und begriff, dass Trauer kein Ende kennt – sie verändert nur ihre Gestalt. Sie wird leiser, verborgener, manchmal unsichtbar. Aber sie bleibt. Und vielleicht ist das auch ein Zeichen dafür, wie groß die Liebe war.
An diesem Morgen, zwischen Tränen und Stille, fühlte ich beides: Schmerz und Dankbarkeit. Schmerz darüber, dass jemand fehlt. Dankbarkeit dafür, dass es jemanden gab, der so sehr geliebt wurde, dass selbst die Stille ihn nicht vergessen kann.
Und so saßen wir dort, ohne viele Worte, aber verbunden – durch all das, was bleibt, wenn alles andere vergeht: Liebe, Erinnerung und die stillen Tränen, die niemand sieht.
Die Liebe bleibt.